[𝗚𝗮𝘀𝘁-𝗥𝗲𝘇𝗶] Suzie Miller: Prima facie | Literaturkritik von Henning Falk
- Olivia Grove
- vor 6 Stunden
- 3 Min. Lesezeit
《 R E Z I - Gastbeitrag x Literaturkritik von Henning Falk 》
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Suzie Miller: Prima facie
Erschienen am 18. März 2025 im Kjona Verlag.
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🕴 Let me introduce … Henning Falk!
H. F. und ich haben uns auf eine Parallellektüre eingelassen – kein Buddy Read* im klassischen Sinne, sondern eher ein literarisches Pingpong zwischen Verstand und Gefühl.
(*‚Buddy Read‘ klingt wie ein Quietscheentchen mit Lesebrille. Nein, danke.)
Anmerkung der Gastgeberin la Grove:
Henning bleibt gern im Verborgenen – damit ihr euch weiterhin die Köpfe darüber zerbrechen könnt, wer wohl hinter dieser feinen Feder steckt.
Hier seine Kritik zu Prima Facie.
Literaturkritik zu Prima Facie von Suzie Miller
Ein Justizsystem, das sich selbst für vernünftig hält, ist gefährlich. Es glaubt, neutral zu sein, weil es nicht fühlt. Suzie Miller, selbst Juristin, lässt in ihrem Roman keinen Zweifel daran: Objektivität ist oft bloß der geübte Blick der Mehrheit.
Prima Facie ist keine Anklageschrift, keine Moralfibel, kein feministisches Kampfsignal. Es ist die Demontage eines Glaubens: dass Beweise genügen. Dass Gerechtigkeit entsteht, wenn man nur gut genug argumentiert.
Kritikpunkt: Bedauerlicherweise gerieten einige Figuren in die Nähe des Klischees. Besonders dann, wenn Tessa Ensler zum wiederholten Male ihre Richter-Perücke in der Tupperdose als Symbol ihrer ‚Arbeiterklasse-Herkunft‘ beschwor. Noch ein solcher Verweis, und das Buch hätte mit einem gewissen Nachdruck die Bekanntschaft meiner Zimmerwand gemacht.
In einer literarischen Landschaft, die allzu oft auf oberflächliche Erzählungen zurückgreift, gelingt Suzie Miller ein seltenes Kunststück: Prima Facie ist ein ebenso präziser wie verstörender Roman über ein Rechtssystem, das sich selbst genügt und dabei jene verrät, die am meisten auf seinen Schutz angewiesen wären.
Die Protagonistin Tessa ist Strafverteidigerin mit juristischem Scharfsinn und einem kompromisslosen Glauben an die Logik der Beweisführung. Doch als sie selbst zur Klägerin in einem Fall sexualisierter Gewalt wird, beginnt ihr professionelles Weltbild zu erodieren. Was bislang klare Strukturen hatte, Indizien, Aussagen, Verfahren, wird nun zu einem kafkaesken Labyrinth, in dem Objektivität zur Fiktion wird.
Nicht der Täter steht im Zentrum des Prozesses, sondern die Klägerin. Ihre Vergangenheit, ihr Verhalten, ihre Glaubwürdigkeit, alles wird demontiert, alles zum Gegenstand der Verhandlung gemacht. Miller zeigt eindringlich, wie das juristische System vermeintlich neutrale Standards anwendet, die in Wirklichkeit tief in patriarchalen Machtlogiken wurzeln.
Prima Facie offenbart die strukturelle Blindheit eines Gerichtsapparats, der in Fragen sexualisierter Gewalt weniger auf Wahrheitsfindung als auf formale Beweisbarkeit setzt, ein entscheidender Unterschied, der für Betroffene existenzielle Folgen hat. Der Roman fragt nicht, ob das System versagt. Er zeigt, dass es funktioniert, nur eben nicht für alle.
Millers Stil ist klar, nüchtern und dramaturgisch ausgefeilt. Die narrative Verdichtung, die sich aus der ursprünglichen Theaterfassung speist, verleiht dem Text eine Dringlichkeit, die sich kaum ignorieren lässt. Besonders stark sind jene Passagen, in denen die Sprache an ihre Grenzen stößt: Dort, wo es um das Unsagbare geht, das dennoch gesagt werden muss.
Dass Prima Facie nicht mit einem juristischen Lehrstück verwechselt werden darf, liegt an Millers Fähigkeit, Strukturkritik mit menschlicher Tiefe zu verbinden. Die psychischen Nachwirkungen des Übergriffs, Dissoziation, Scham, Sprachlosigkeit, werden nicht pathologisiert, sondern als nachvollziehbare Reaktionen eines Körpers gezeigt, der nicht gehört wird.
Suzie Millers Roman ist ein Beitrag zu einer notwendigen Debatte: Wer hat Zugang zu Gerechtigkeit? Wessen Worte zählen? Und welches Wissen gilt vor Gericht als legitim? Antworten gibt das Buch keine, wohl aber einen Impuls, die richtigen Fragen zu stellen.
— Henning Falk
[Henning klassifiziert nicht in Sternen. Er verzichtet auf numerische Wertung. Er vertraut auf das Urteil des wohlwollend kritischen Lesers.]
Ein großes DANKE geht an den Betatester Henning Falk!
Suzie Miller, geboren in Melbourne, hat jahrelang als Strafverteidigerin gearbeitet, mit besonderem Augenmerk auf sexuellen Missbrauch. Ihr Stück »Prima Facie«, auf dem ihr Roman basiert, gewann alle großen Preise Australiens sowie den Olivier Award, die wichtigste Auszeichnung im britischen Theater. »Prima Facie« ist ihr erster Roman.
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