Suzie Miller: Prima facie »Für alle, die nicht länger nach den Gesetzen des Patriarchats leben wollen.« Mareike Fallwickl | Rezension
- Olivia Grove
- vor 20 Stunden
- 3 Min. Lesezeit
《 R E Z I 》
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Suzie Miller: Prima facie
Erschienen am 18. März 2025 im Kjona Verlag.
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Must-read! Unumgänglich. Unbequem. Unvergesslich!
Knallt rein. Gräbt sich in die Seele. Muss gelesen werden!
Jede dritte Frau.
Mindestens einmal im Leben erlebt sie physische und/oder sexualisierte Gewalt. Und nur jede zehnte Betroffene geht zur Polizei. Die Verurteilungsrate? 1,3 %. Eine Zahl, die sich einbrennt.
Suzie Miller bringt diese bittere Realität auf den Punkt. Mit messerscharfer Klarheit, mit juristischer Präzision, mit emotionaler Wucht.
»Prima Facie«, ursprünglich als Theatermonolog geschrieben, erzählt die Geschichte von Tessa: einer brillanten Strafverteidigerin, die selbst zur Klägerin wird – und feststellen muss, dass ein System, das Täter schützt, Opfer zermalmt. Dass Wahrheit manipulierbar ist, wenn sie nicht ins Schema passt.
Ich bin auf »Prima Facie« durch das Cover der englischen Theaterausgabe gestoßen. Ein visuelles Beben! Zwei Gesichter, digital verzerrt, ineinander verschoben im Glitch-Effekt. Neonpink trifft Kaltblau. Auf der einen Seite: geschlossene Augen, stille Kontrolle unter der weißen Richterperücke. Auf der anderen: explodierende Emotion. Wut, Schmerz, Ungerechtigkeit.
»Er hat mir das angetan. Und doch fühlt es sich an, als würde mir der Prozess gemacht.« (S. 247)
Im Roman kippt die Realität der juristischen Logik ins Absurde: Nicht der Täter steht im Kreuzverhör, sondern die Frau, die ihn beschuldigt. Tessa wird nicht nur entblößt, sie wird demontiert. Ihre Glaubwürdigkeit, ihre Geschichte, ihr Körper – alles steht zur Disposition. Alles wird seziert.
»Wie kannst du es wagen? Wie kannst du nur? Ich starre ihn an. Warum stehe ich hier oben und werde als Lügnerin dargestellt?« (S. 329)
Millers Schreibstil ist brillant – juristisch scharf, emotional durchdringend. Ich hing an jeder Seite, konnte nicht aufhören zu lesen. Besonders in den Gerichtsszenen entfesselt sie ihre ganze intellektuelle Schärfe und rhetorische Brillanz.
Die Autorin beschönigt nichts und die Szene des Übergriffs trifft wie ein Blitz: erschreckend, schockierend real und unerträglich nah.
Man spürt die Betäubung, wie Tessas Körper abschaltet, wie ihr Bewusstsein in Dissoziation flüchtet. Und gerade weil es so weh tut, beeindruckt ihr Mut umso mehr, das Verbrechen anzuzeigen. Der Bruch in ihrer Seele ist spürbar, schmerzhaft echt.
Fazit:
Ein System, das vorgibt, neutral zu sein, aber in Wahrheit tief männlich codiert ist – das ist das eigentliche Gericht, dem Tessa gegenübersteht. Es legt fest, was als Wahrheit gilt.
Und es blendet aus, was nicht ins Raster passt: weibliche Perspektiven, Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt, das Trauma hinter der Aussage.
Dieses Buch ist kein Appell. Es ist ein Verdacht, der zur Gewissheit wird. Eine Wunde, die sich nicht mehr zudecken lässt.
Ein Aufschrei, der das System selbst auf die Anklagebank zerrt.
Prima Facie, lateinisch für »auf den ersten Blick« oder »dem ersten Anschein nach« schreit: Es war nie für uns gemacht.
Jetzt liegt es an uns, die Botschaft weiterzutragen.
Lest dieses Buch. Sprecht darüber. Lasst es nicht ungehört verhallen!
⭐⭐⭐⭐⭐
Suzie Miller, geboren in Melbourne, hat jahrelang als Strafverteidigerin gearbeitet, mit besonderem Augenmerk auf sexuellen Missbrauch. Ihr Stück »Prima Facie«, auf dem ihr Roman basiert, gewann alle großen Preise Australiens sowie den Olivier Award, die wichtigste Auszeichnung im britischen Theater. »Prima Facie« ist ihr erster Roman.
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