Friederike Oertel: Urlaub vom Patriarchat: Wie ich auszog, das Frausein zu verstehen | Eine bewegende Reise in eines der letzten Matriarchate der Welt | Rezension
- Olivia Grove
- vor 1 Minute
- 4 Min. Lesezeit
《 R E Z I 》
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Friederike Oertel: Urlaub vom Patriarchat: Wie ich auszog, das Frausein zu verstehen | Eine bewegende Reise in eines der letzten Matriarchate der Welt
Erschienen am 8. Mai 2025 im Verlag Kiepenheuer & Witsch.
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Mutiger Blick auf Macht & Weiblichkeit
„Urlaub vom Patriarchat“ ist eine kluge, essayistische Melange aus Reisebericht, Autobiografie, Sachbuch und Systemkritik – mal inspirierend persönlich, mal einfach zu theoretisch.
Auf ihrer Reise nach Juchitán de Zaragoza im Süden Mexikos, einem der letzten Matriarchate der Welt, reflektiert Friederike Oertel über das Frausein, Geschlechterrollen und patriarchale Strukturen.
Ihre Erlebnisse vor Ort, die von Begegnungen, Brüchen und gelebter Vielfalt geprägt sind, blitzen wie Sonnenstrahlen durch den theoretischen Nebel. Doch diese leuchtenden Momente verlieren sich oft im dichten Faktengeflecht, obwohl gerade sie dem Werk Echtheit, Wärme und Weitblick hätten verleihen können.
Die Dysbalance zwischen persönlicher Erfahrung, historischen und kulturellen Exkursen sowie analytischer Gesellschaftskritik hat mich emotional nicht gecatcht – der erzählerische Sog blieb für mich aus.
Berührende Einblicke in strukturelle Gewalt
Trotz dieser Kritik zeigt „Urlaub vom Patriarchat“, wie tief die Kontrolle über weibliche Sexualität bis heute in gesellschaftlichen und familiären Machtgefügen verwurzelt ist.
Ein besonders scharfer Blick richtet sich auf den Mythos des Jungfernhäutchens (S. 188), den Mithu Sanyal mit einer brutalen Wahrheit kontextualisiert:
»[...], dass junge Mädchen zwangsverheiratet und vergewaltigt wurden, was zu Wunden und Blutungen führte.«
Dieser Satz macht schmerzlich deutlich, wie Gewalt gegen Frauen in kulturellen Narrativen verankert und als „biologischer Beweis“ für Reinheit instrumentalisiert wird, während Körper, Begehren und Selbstbestimmung systematisch zum Schweigen gebracht werden.
»Ich bin neun Jahre alt, als es zum ersten Mal geschieht. [...] Ich bin zwölf, als mich ein Mann auf der Straße anspricht und fragt, ob ich ihm [...]. Ich bin dreizehn, als mir jemand im Schwimmbad unter Wasser [...]. Ich bin sechszehn, als mir ein Mann auf dem Nachhauseweg im Dunkeln hinterherläuft. [...]« ( S. 217-218)
»Das sind nur Beispiele. Alle Frauen kennen Frauen, die mindestens einmal in ihrem Leben körperlich oder verbal belästigt wurde.« (S. 219)
Diese Szenen brennen sich ein. Zwei Mädchen, gerade einmal neun Jahre alt, werden auf dem Heimweg in eine Situation gedrängt, die von Übergriffigkeit und Machtdemonstration durchzogen ist. Der Mann, der sie anhält, stellt Fragen, die kein Kind je hören sollte, und konfrontiert sie mit Bildern, die ihnen niemals zugemutet werden dürften. Die Schilderung bleibt ruhig und beinahe sachlich, entfaltet dadurch aber ihre volle Wucht.
Denn was hier erzählt wird, ist keine Ausnahme, sondern bittere Realität für viele: dass Sicherheit für Mädchen keine Selbstverständlichkeit ist.
Die Autorin macht erfahrbar, wie früh weibliche Selbstwahrnehmung von Vorsicht geprägt wird. Es geht nicht darum, ob etwas passiert, sondern wann. Diese frühen Erfahrungen verändern nicht nur die Sicht auf die Welt, sondern nagen auch leise in Körper und Psyche: als Unsicherheit, Anspannung und ständige innere Alarmbereitschaft.
Was bleibt, ist ein beklemmendes, aber auch klärendes Gefühl: „Urlaub vom Patriarchat“ spricht aus, was oft verschwiegen wird, und macht sichtbar, was gesellschaftlich zu lange normalisiert wurde.
Fazit:
Ich empfehle dieses Buch allen, die sich für Feminismus, kulturelle Vielfalt, Geschlechterrollen und alternative Gesellschaftsmodelle interessieren. Trotz seiner Stärken hat es mich nicht durchgehend emotional erreicht.
Doch gerade die ehrlichen und berührenden Passagen machen „Urlaub vom Patriarchat“ zu einem mutigen, horizonterweiternden Beitrag zur feministischen Debatte.
⭐⭐⭐ | 3,5 Sterne

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