《 R E Z I 》
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Katharina Hartwell: Große Lieben
Erschienen am 27. Februar 2025 im Hanser Berlin Verlag / Piper Verlag.
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Flüstern zwischen den Zeilen – die feinen Risse im Alltäglichen & leisen Brüche des Lebens
Manchmal ist es nicht das Offensichtliche, das beunruhigt, sondern das Flüstern, was zwischen den Zeilen lauert. Dieser Text spielt genau damit: ein Moment des Lachens, der so laut und befreiend ist, dass er unheimlich wird. Eine Erinnerung, die sich verschiebt, bis sie nicht mehr klar unterscheidbar ist zwischen Unschuld und Unbehagen.
Was zunächst wie eine Geschichte über jugendliche Freundinnen beginnt, entfaltet sich rasch zu einer vielschichtigen und tiefgründigen Erzählung über Machtverhältnisse, soziale Unterschiede und die Frage, wie nah wir einander wirklich sein können.
Katharina Hartwell führt uns in »Große Lieben« durch drei Lebensabschnitte – 13, 23 und 33 Jahre –, in denen sich die Protagonistinnen Maren und Inga immer wieder begegnen und dabei allmählich voneinander entfernen.
Dabei verschwimmen die anfängliche Leichtigkeit und die schmerzliche Erkenntnis, während die kindliche Perspektive auf die Welt in ein subtiles Beklemmungsgefühl kippt, das auch im Erwachsenenalter nicht weicht.
Kindheit, die Risse bekommt
»Plötzlich waren sie mit uns auf dem Spielplatz, Georgi, in der Umkleidekabine, Herr Elstner mit der Fanta-Flasche, Ingas Nachbar, der uns immer durch die Hecke beobachtete, wenn wir uns im Garten sonnten.« (S. 101)
Die Szene greift unterschwellige, kindliche Wahrnehmungen von Machtverhältnissen und übergriffigen Situationen auf. Der scheinbar banale Moment – ein Lehrer, der Maren einen Schluck aus seiner Fanta-Flasche anbietet, ein Nachbar, der über die Hecke lugt – wird durch die Perspektive des Mädchens mit latenter Bedrohung aufgeladen.
Es ist diese schwebende Unsicherheit, die den Text so beklemmend macht: War es ein Witz? Ein Missverständnis? Oder doch der Moment, in dem eine Grenze überschritten wurde?
»Jemand hatte freundlich sein, hatte uns warnen wollen, hatte einen Witz gemacht, einen Kommentar gemacht, hatte einen Raum betreten, in dem er nichts zu suchen hatte, und all das war ganz harmlos. Oder nicht.« (S. 101)
Besonders beeindruckend ist, wie die Sprache diesen Prozess verstärkt. Die Wiederholungen „Oder nicht?“ in dieser Passage, das Schwanken zwischen Harmlosigkeit und lauernder Gefahr – all das macht erfahrbar, wie Erinnerung arbeitet. Wie sich ein Gefühl im Nachhinein verändern kann, bis es kippt. Augenblicke, die plötzlich einen schalen Beigeschmack bekommen.
Zwischen geteilten Erinnerungen und wachsender Distanz
»In meinen Augen sagte es damals nichts über uns aus, dass Inga Geld hatte und ich nicht. Es war der reine und dabei irgendwie ungerechte Zufall, dass sie dauernd Geld von ihren Eltern bekam, weil die eben welches hatten, und ich nicht, weil meine Eltern keins hatten.« (S. 254)
Früher war dieser Unterschied selbstverständlich – heute aber stellt sich die Frage: Warum war es damals egal, und warum wirkt es nun befremdlich, wenn Inga Marens Sushi bezahlt? Die alte Verbundenheit ist zwar spürbar, doch sie steht auf wackeligen Beinen. Beide halten an gemeinsamen Erinnerungen fest, während der Graben zwischen ihnen immer tiefer wird.
»[...], und dann wird es bloß ein weiteres dieser Treffen gewesen sein, bei denen wir uns nicht einen Fingerbreit aufeinander zubewegt haben, sondern, wenn überhaupt, bloß weiter in unterschiedliche Richtungen gedriftet sind.« (S. 287)
Es wirkt immer wieder, als stünde Marens und Ingas Freundschaft am Scheideweg – beide klammern sich fest, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die zentrale Frage am Ende eines Kapitels bringt es auf den Punkt: „Ist einander zu verstehen nicht so eine Art Grundvoraussetzung für Freundschaft?“
Diese Frage lässt zweifeln, ob das, was sie verbindet, noch ausreicht. Es ist ein Moment der Erkenntnis: Die Freundschaft besteht weiter, lebt aber mehr von der Vergangenheit als von der Gegenwart.
Ironie, Melancholie und subtile Spannung
Katharina Hartwell schreibt mit einer seltenen Mischung aus Scharfsinn und Ironie – ihre Sprache ist schmerzhaft präzise, aber zugleich von einem Witz durchzogen, der nie platt wirkt.
Die Autorin beobachtet genau und gibt Szenen mit feinen Nuancen wieder. Besonders auffällig ist die Art, wie sie Blicke, Körpersprache und unausgesprochene Dynamiken beschreibt. Es entsteht ein subtiles Spannungsverhältnis zwischen den Figuren, das viel über soziale Unterschiede und emotionale Distanz aussagt.
Hier wird nichts laut angeklagt. Stattdessen legt sie eine feine Schicht Unsicherheit über ihre Sätze, als würde man tief unter Wasser lauschen und alles nur gedämpft wahrnehmen. Wie ein dichter Nebel, der sich erst langsam bemerkbar macht, aber dann nicht mehr verschwindet.
»Im Studium machen mich das Leid der Frauen und die patriarchalen Strukturen, so universal und abstrakt, wie ich mich mit ihnen beschäftigte, wütend. Alles in mir ist aufgebracht und kampfbereit, aber im Haus der Kreuzers bin ich bloß traurig, traurig und sehr ratlos und ein wenig entsetzt.« (S. 178)
In Hartwells Wortwahl steckt viel Bedachtes: Der Text konfrontiert, aber ohne es explizit zu machen. Stattdessen lässt er Räume offen – für Interpretationen, für Zweifel. Gerade das macht ihn so eindringlich.
Fazit
»Große Lieben« ist eine eindrucksvolle Geschichte, in der sich Freundschaften wie Geister aus der Vergangenheit anfühlen, in der scheinbar harmloses Lachen in einem Moment in Unbehagen umschlagen kann. Es ist ein Buch über das Erwachsenwerden und die Frage, ob wir jemals wirklich „erwachsen“ ankommen. Über die Widersprüche im Patriarchat, die ungesagten Regeln von Geben und Nehmen, und das Schweigen, das alles überlagert.
Katharina Hartwell erzählt das alles mit einer introspektiven, ironisch gebrochenen Stimme, die nie belehrend wirkt, sondern Raum für Zweifel lässt. Wer Freude an literarischer Vielschichtigkeit hat und sich gerne auf die feinen Risse im Alltäglichen einlässt, findet in »Große Lieben« eine ebenso dichte wie leise verstörende Lektüre.
Und am Ende bleibt das Gefühl, dass das Unausgesprochene manchmal lauter schreit als jedes offene Wort.
⭐⭐⭐⭐⭐
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